Theologische Vision
Über Jahrzehnte hinweg wurden theologische Positionen mit den Etiketten „konservativ“ und „progressiv“ versehen und in entsprechende Schubladen gesteckt. Vertritt die SJM eine konservative Theologie, weil sie z. B. für die unbedingte Treue zum päpstlichen Lehramt einsteht? Oder ist sie nicht doch eher progressiv und liberal, weil sie auch die neue Form der hl. Messe schätzt?
In Wirklichkeit sind die Begriffe „konservativ“ und „progressiv“ unbrauchbar für die Beschreibung einer theologischen Linie. Jede Theologie, die katholisch sein will, muss ihrem Wesen nach konservativ sein, und gleichzeitig in einem wichtigen Sinn progressiv. Sie muss wesentlich konservativ, „bewahrend“ sein, weil sie auf einer göttlichen Offenbarung gründet, die sie zu bewahren und zu vertiefen hat. Aber sie muss auch progressiv, „voranschreitend“ sein, sofern sie den Auftrag hat, das empfangene Erbe im Gebet zu betrachten und zu erwägen und damit die uns anvertrauten Wahrheiten immer tiefer zu durchdringen und Antworten auf je neue Zeitfragen zu geben – freilich immer auf dem Fundament der empfangenen Offenbarung und einer inzwischen 2000-jährigen Tradition (insofern wieder konservativ). Jesus selber bringt diesen besonderen Charakter der katholischen Theologie zum Ausdruck, wenn er im Evangelium den Jünger des Himmelreiches vergleicht mit einem Schriftgelehrten, „der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt“ (Mt 13,52). Theologie lässt sich weder auf die erstarrte Fixierung und Konservierung von alten überkommenen Formen und Bräuchen reduzieren – auch wenn es natürlich viel Altes gibt, das unbedingt zu bewahren ist. Noch besteht sie einfach in der leichtfertigen Annahme von Veränderungen nach Vorgabe des Zeitgeistes. Katholische Theologie besteht immer im „sowohl … als auch“. Sie wird immer sowohl neue als auch alte Schätze beinhalten.
Welche Konsequenzen dieses Verständnis von Theologie mit sich bringt, wird schön am Beispiel der Interpretation des II. Vatikanum deutlich. Papst Benedikt XVI. hat in einer Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium im Jahr 2005 eine mangelhafte Rezeption der Konzilstexte beklagt. Oftmals wären die Dokumente als radikaler Bruch mit der vorhergehenden kirchlichen Lehre gelesen worden. Dagegen betont der Papst, dass – trotz manch vordergründiger Änderung in Formulierung und Perspektive – „in den Grundsätzen die Kontinuität nicht aufgegeben worden ist.“ Das rechte Verständnis der Texte setze aber – so der Papst – eine „Hermeneutik der Reform“ voraus, eine Interpretation, die einerseits das Anliegen des Konzils ernst nimmt, eine kirchliche Er-neu-erung zu voranzutreiben, d. h. also auch wirklich Neues zu sagen, und die andererseits in allen Formulierungen die alten Prinzipien der empfangenen Offenbarung in Kontinuität gewahrt sieht. Die sowohl das Bestreben einer Erneuerung, als auch die Treue zur Tradition anerkennt.
In diesem Sinn bemüht sich die SJM um eine Theologie, die sich durch absolute Treue zur göttlichen Offenbarung – in Schrift und Tradition – auszeichnet. Dies schließt die unbedingte Anerkennung des päpstlichen Lehramtes als legitimen Interpreten der Offenbarung mit ein. Gleichzeitig ist Theologie aber nie als fertig abgeschlossenes Projekt zu betrachten, deren einzige Aufgabe es fortan wäre, errungene Ergebnisse und Erkenntnisse zu konservieren. Eine Vertiefung der theologischen Reflexion über die Glaubensinhalte bleibt immer möglich und notwendig. Wie eine lebendige Pflanze ist die Theologie im Laufe der Jahrhunderte gewachsen und entfaltet sich weiter. In diesem Sinn ist die SJM offen für neue Aspekte, Entfaltungen und Spekulationen in der Theologie. Alles, was auf dem Fundament von Schrift und Tradition Bestand hat, ist als rechtgläubige Theologie anzuerkennen. Gerade darin liegt die eigentliche Herausforderung für die Theologie von heute – und zugleich ihr besonderer Reiz: In der kritischen Prüfung neuer Ansätze und Spekulationen anhand des Maßstabs des überlieferten Glaubens. „Prüft alles, was gut ist, behaltet“ (1Thes 5,21).